Erinnertes Leben
(Angelika Dirscherl)
Vera Bonsen hat sich erinnert, sie hat sich mit einem Kapitel deutscher Geschichte beschäftigt, sie weiß, was mit so vielen jüdischen Bürgern der Stadt Heidelberg – und nicht nur dort- nach 1933 geschah, in einer Zeit, in der “die Worte im Mund zerspringen”, wie es die große jüdische Dichterin Nelly Sachs formulierte. Diese erlebte selbst, was es heißt, “wenn sich die Sterne verdunkelt haben” (N.S.). Überleben konnte sie nur, weil schwedische Künstlerfreunde ihr halfen nach Schweden zu emigrieren.
Die beispiellose Initiative des Kölner Künstlers Gunter Demnig, der das Konzept der Messingstolpersteine entwickelte und alle Steine stets selbst verlegt, zuerst in deutschen Städten, inzwischen auch europaweit, um die unzähligen Opfer des NS-Regimes in unserer Erinnerung zu halten oder auch erst dorthin zu bringen. Dieses Konzept hat Vera Bonsen hier aufgenommen und mit ihren eigenen bildnerischen Mitteln in der Heidelberger Synagoge ein Mahnmal entwickelt und nach vielem Überlegen, Probieren und Abwägen in eine Form gebracht. Diese Wand soll nun in konzentrierter Form an all die Menschen erinnern, die in diesen schönen Häusern, an befahrenen Straßen, an belebten Plätzen gewohnt hatten, die unter furchtbaren Umständen aus ihrem Leben, ihrer Heimat herausgerissen wurden. Einige konnten emigrieren, die meisten jedoch wurden in den Todeslagern von Treblinka, Majdanek, Dachau, Bergen-Belsen, Auschwitz, Buchenwald, Mauthausen deportiert – zu all den Sammelplätzen des Todes, den Zentren der Selektion und der Gaskammern.
“O die Schornsteine
Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes,
Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch durch die Luft!”
Ich zitiere nochmals Nelly Sachs, deren Texte ich auch auswählte, nicht nur weil sie mich schon als Jugendliche beeindruckt hatte, sondern auch weil sie die erste jüdische Dichterin deutscher Sprache war, die vor 50 Jahren, 1966, den Literaturnobelpreis erhielt. Sie benutzte einfache Worte für ihre Gedichte, und diesen Weg der Einfachheit hat auch Vera Bonsen eingeschlagen. Sie hat ihre eigene künstlerische Handschrift hintangestellt, sie arbeitete zitathaft mit Gunter Demnigs Ideenmaterial.
Was sehen wir hier? Was zeigt sie uns?
Ein großer metallener Bilderrahmen (hier ein Dank an das Städtische Theater, das den Rahmen schweißte) umfasst 152 quadratische Plättchen, die die verlegten Plättchen in Heidelberg zeigen. Vera Bonsen hat sie alle aufgespürt. Ich traf sie dabei auf dem Fahrrad, sie hatte Metallputzmittel und Lappen in der Tasche, fotografierte alle 152 Steine. Die wahre Anzahl der Opfer ist viel höher, über 2000 Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt verschwanden aus ihr. Hilfreich war da die Arbeit der Initiative Stolpersteine und die über 10 Jahre währende Forschungsarbeit von Norbert Giovannini, Claudia Rink und Frank Moraw. Ihr biographisches Lexikon, das unter dem Titel “Erinnern, Bewahren, Gedenken” im Heidelberger Wunderhorn Verlag erschien, half der Künstlerin bei ihrer Arbeit.
Sie hat alle fotografierten Steine einzeln ausgeschnitten, auf Kapaplatten aufgezogen und zu einem vertikalen Fries montiert, das nun metallisch irisierend an der Wand schimmert. Diese Farbigkeit vergleicht Vera Bonsen mit nassen Neckarkieseln, ihr Nuancenreichtum widerspiegelt die farbige Vielfalt des jüdischen Lebens von einst. Aber auch Steine für Homosexuelle, russische Zwangsarbeiter in der Fuchsschen Wagonfabrik, Zeugen Jehovas sind darunter.
Vera Bonsen hatte früh die Idee, das “Bodenlastige” der Stolpersteine in die Höhe zu ziehen. (Es geht wohl noch mehr Leuten wie mir…ich gehe um die verlegten Steine herum, mag nicht drauf treten, muss mich oft bücken um die kaum mehr leserlichen Schriftzüge und Zahlen zu entziffern. Die Idee Gunter Demnigs, dass viele Leute darüber laufen und dann mit ihren Schritten, ihren Schuhsohlen die Steine blank halten, funktioniert nicht so recht…)
Die Namenszüge sollen leserlich bleiben, denn ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist, so die Künstlerin.
Die Stolpersteine sind quadratisch. Das Quadrat ist eine Form, die keine Seite bevorzugt, ist, laut Augustinus, ein Sinnbild der Gerechtigkeit, ein Zeichen menschlicher Einteilung, Ordnung und Kultivierung. Es bestimmt die meisten Plätze in der Stadt, so auch in Heidelberg, mit Kirche, Rathaus, Markt etc. eben als pulsierendes Herz der Stadt, aus dem so viele Mitbürger brutal herausgerissen wurden.
Die jüdische Kultusgemeinde Heidelberg, die das Projekt ermöglichte, bekam die Idee dazu durch das “KunstSchaufenster” von Diana RosesCopyshop Druckspektrum in der Blumenstraße. Dort hatte Vera Bonsen gleichsam eine erste, einfache Version der Stolpersteinwand auf Pappe und mit Fotokopien gestaltet. Davor blieben viele Kunden, Passanten, Spaziergänger zu jeder Tages- und Nachtzeit stehen um zu schauen, die Namen zu lesen und dadurch wohl auch ins Nachdenken zu kommen. Dazu gab es viele positive Kommentare. Aus diesem Stück Fensterkunst in der Nachbarschaft entwickelte sich die Idee und dann der Kontakt zur Künstlerin. Vera Bonsen lebt seit einigen Jahren wieder in Heidelberg, nach künstlerischen Wanderjahren als Bühnenbildnerin an vielen europäischen Theatern. Sie beherrscht die Kunst der Transformation, von groß und klein, unten und oben, hell und dunkel. Sie benutzte die Wand als Gedächtnisraum, sie wechselte das Material, statt Metall nahm sie Papier, ein Material das nur scheinbar leicht und harmlos ist (wer sich an Papier schon einmal geschnitten hat.…). Fast ein alchemistischer Prozess, die Transmutation des Metalls in irisierendes, zugeschnittenes, geklebtes, geordnetes Papier, das nun eine Fläche bildet, die den Betrachter zum Erinnern und Nachdenken bringen will, vielleicht gar ein “Läuterungsprozeß der Seele” in Gang bringen mag?
Vera Bonsen schneidet, faltet, rollt, bewegt Papier, sie bearbeitet es in ganz eigener unverwechselbarer Weise, hat eine eigene „Papier“-Handschrift gefunden. (Bsp.) Aus feinst geschnittenen, farbig subtil gehaltenen Papierstreifen entfaltet sie vor dem Betrachter schimmernde Flächen, die an sonnenüberglänzte Wasserflächen oder Dunst in der Landschaft denken lassen. Aus diesen künstlerischen Verfahren und Erfahrungen hat sie mit dem Demnigschen Konzept ein aussagekräftiges und gleichzeitig zurückhaltendes Mahnmal gestaltet, das vielleicht gerade deshalb so berührend ist, uns nachdenken lässt über die Menschen, die einmal unter uns lebten, liebten, arbeiteten, zu uns gehörten.
Es sind Grabschriften, nicht in die Luft (so der Titel eines Gedichtzyklus von Nelly Sachs), sondern an die Wand geschrieben. Eine kleine Spiegelfläche am Boden vervielfältigt das Namensband ins Unendliche und bringt so die unmenschlich große Anzahl der Opfer ins Bild, ins Bewußtsein.
Unter dem Motto “Die Würde des Menschen ist unantastbar” hat sich Anfang 2016 die “Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaat – gegen Intoleranz, Menschenfeindlichkeit und Gewalt gebildet. Was bedeutet es tolerant, respektvoll und weltoffen zu sein? Auch dieses Gedenken an die Opfer des NS-Regimes in Heidelberg ist Teil davon. Haltung und Standhaftigkeit zeigt dieser 'Acker aus Papier' (N. Sachs), diese 'eherne Mauer' (Jeremia 15,20), die uns vielleicht auch ein Stück beschützen will….”
Abschließen möchte ich mit dem “Chor der Sterne” von Nelly Sachs:
O Erde, Erde
Stern aller Sterne
Durchzogen von den Spuren des Heimwehs
die Gott selbst begann -
Ist niemand auf dir, der sich erinnert an deine Jugend?
Niemand der sich hingibt als Schwimmer
in den Meeren des Todes?
Ist niemandes Sehnsucht reif geworden
Dass sie sich erhebt wie der engelhaft fliegende Samen der Löwenzahnblüte?
Erde, Erde bist du eine Blinde geworden?
Von den Schwesteraugen der Plejaden
Oder der Waage prüfendem Blick?
Mörderhände gaben Israel einen Spiegel
Darin es sterbend sein Sterben erblickte -
Erde, o Erde
Stern aller Sterne
Einmal wird ein Sternbildspiegel heißen,
Dann o Blinde wirst du wieder sehen!
Angelika Dirscherl